Der Tag hatte regnerisch begonnen. Ohne Pause waren heftige Schauer niedergegangen und noch immer türmten sich schwarze Gewitterwolken über dem grünen Bergkamm, hinter den Gebäuden der Shin Bun Schule. Aus dem Dschungel, der sich über die Flanken des Berges erstreckte, stiegen Nebelschwaden auf. Vom nahen Meer wehte ein stetiger, lauer Wind und trieb weisse Wolken vor sich her. Das Blau des Himmels kehrte nach und nach zurück und die Sonne stach inzwischen heiss auf den Sandplatz herab auf dem Taya stand. Die Trainingsmaschine mit ihrem beträchtlichen Sortiment an Übungswaffen, Keulen, Klingen Projektilschleudern, schwebte reglos vor dem Mädchen über dem roten Staub. Die Maschine summte im Bereitschaftsmodus, während die ölig glänzenden Linsen auf Taya gerichtet waren.
„Trainingseinheiten beenden“, befahl das Mädchen und der silbrig glänzende Zylinder klappte seine Greifarme und Waffen ein. Danach sauste er davon und verschwand in einem der Gebäude am Rande des Sportgeländes. Taya rieb sich nachdenklich die schmerzende Schulter, wo sie von einem der Gummigeschosse getroffen worden war, die der Kampfautomat abgefeuert hatte. Das war nicht der einzige Treffer, den Taya heute hatte hinnehmen müssen. Die stumpfen Klingen hatten sie an Beinen, Hüften und Bauch erwischt, und die Stellen würden ihr noch einige Tage Schmerzen bereiten. Weitaus schlimmer verletzt jedoch war Tayas Stolz. Vor wenigen Tagen erst war sie vierzehn Jahre alt geworden und konnte sich rühmen die begabteste Schülerin des Shin Bun zu sein. Und gerade was ihre Fähigkeiten auf dem Kampfplatz anging, konnte es niemand mit ihr aufnehmen. Selbst den Trainingsdrohnen gelang es nur selten sie zu treffen oder zu entwaffnen, selbst wenn sie von Meister Brack persönlich programmiert wurden. Umso schwerwiegender war die Tatsache, dass sie diesmal vier Treffer hatte wegstecken müssen. Ein Ausdruck des Zwiespalts, in dem sie sich befand und in den sie dieser obskure Graf gebracht hatte, der vor ein paar Minuten in Begleitung der Schulwache in ihrer Unterkunft aufgetaucht war.
Taya war eines der unzähligen Waisenkinder, die der ewige Krieg gegen die Diener des alten Reiches hervorgebracht hatte. Und wie viele von ihnen, hatte man sie in die Schule des Shin Bun aufgenommen, um sie dort zu einer Zofe und Dienerin auszubilden. Alle Schüler des Shin Bun betrachteten sich als die Kinder des Laioon, der diese Einrichtung ins Leben gerufen hatte und dem sie absoluten Gehorsam schuldeten. Aber sie dienten ebenso den Häusern, denen man sie zuteilte und die zu den angesehensten Kreisen Kimaths gehörten. Verrat konnte niemals eine Option sein, unter der man begann einer dieser Familien zu Diensten zu sein. Die Etikette des Shin Bun sah nicht vor jemanden ans Messer zu liefern, selbst wenn es sich im Laufe der Zeit herausstellte, dass derjenige in seiner Treue zum Herrscherhaus wankte. Sie bot lediglich die Möglichkeit, diese Familie zu verlassen und sich einer Anderen anzuschließen. Die Personen zu hintergehen, unter deren Dach man Gastrecht genossen hatte, hatte in der Philosophie der Schule keinen Platz. Aber genau das schien der Graf von ihr zu verlangen.
Erneut betastete Taya die schmerzenden Stellen an ihrem Körper und schob sich das Hemd über den Bauch, wo sich, knapp über ihrem Bauchnabel, ein dunkelblauer Bluterguss bildete. Sie war froh, dass sie sich gerade alleine auf dem Sportgelände befand und ihr Versagen vor fremden Blicken verborgen geblieben war. Der Nachmittagsunterricht der unteren Klassen hatte gerade begonnen und durch die geöffneten Fenster konnte sie den Gesang der Kinder aus den ersten Lernstufen hören. in den Klassenzimmern wurde unterrichtet und keiner der disziplinierten Schüler wagte es dabei aus einem der Fenster zu blicken. Niemand war in der Nähe, der sie hätte beobachten können.
Mit dem Handrücken wischte sich Taya den Schweiss von der Stirn und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Die Befehle des Grafen widersprachen so ziemlich allem, was sie auf der Schule für Diener und Zofen gelernt hatte. Aber sie waren klar und deutlich gewesen und ließen keinen Zweifel daran, wie man sie zu verstehen hatte. Der Graf hatte nicht mehr Worte als nötig dafür aufgewendet und jeglichen Spielraum für Interpretationen ausgeschaltet. Ob Leiterin Sonaya davon wusste, fragte sie sich? Er musste sie zumindest kontaktiert haben, denn Taya war eigentlich noch nicht mündig. Erst mit sechzehn würde man sie einem Haus zuweisen können, ohne dafür die Leiter und Meister um Erlaubnis fragen zu müssen. Allerdings galten für Taya, wegen ihres Talentes und ihrer Fähigkeiten, viele Ausnahmeregelungen. Ihr Abschluss lag schon ein Jahr zurück und sie war nur deswegen noch hier, um die Zeit bis zu ihrer Mündigkeit zu überbrücken. Offensichtlich hatte sich die Schulleitung Kompromissbereit gezeigt und es dem Grafen gestattet Taya vorzeitig von der Schule zu nehmen. Immerhin war Graf Fachet Faday der Befehlshaber von Anadyr, der Palastwelt des Laioon von Kimath. Und wer würde es schon wagen ihm Steine in den Weg zu legen. Wie auch immer. Sie würde bestimmt bald Näheres erfahren und das womöglich schneller als es ihr lieb sein konnte.
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